Robert Pfaller


In einem Bild sein: Das Unheimliche der Ahnungslosen



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Man könnte durch einige Räume eines Museums spaziert sein, ohne ein einziges Bild gesehen zu haben. Nichts als farbige Wände hätten einen umgeben. Danach aber würde man in andere Räume gelangen und dort endlich auf Bilder stoßen. Auf diesen Bildern wären nun Figuren zu sehen, die ihrerseits von den Farben jener Räume umgeben sind, durch die man gerade gekommen ist. Die Bilder und diese Figuren sehend, muß man sich dann eingestehen, daß man bereits erblickt worden ist: Man war selbst im Bild, noch bevor man Bilder sah.

Die Formel "Der Betrachter ist im Bild" bezeichnet in diesem Fall also etwas anderes als den (üblicherweise so benannten) Umstand, daß bestimmte Betrachtungsweisen schon im Kunstwerk vorgesehen sind und mit speziellen, auf ihre Vorlieben abgestimmten Effekten bedient werden. Sicherlich müssen die Betrachter des Werkes bemerken, daß bereits mit ihnen gerechnet wurde - aber nicht nur insofern sie z. B. aufgrund geschickt plazierter Offenheit des Werkes manche Spielräume für ihre eigenen Interpretationen vorfinden. In unserem Fall wäre ihre Anwesenheit im Bild buchstäblicher: sie könnten sich darin richtiggehend abgebildet finden; die sichtbaren Figuren wären ihre Doppelgänger. Auch die Betrachter wären, bevor sie zu Betrachtern werden konnten, zunächst solche Figuren gewesen und hätten - für jemand anderen - ein Bild abgegeben. "Du Armer bemerkst nicht, daß ich dich sehe", könnten sie nun, aus ihrer eigenen Erfahrung schließend, zu ihren Doubles sagen.


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Der bisher durchlaufene Parcours würde die Betrachter damit gleich in zwei Rollen gebracht haben, die beide nicht durchwegs angenehm sind: erst Opfer, dann Täter; erst ahnungslose Betrachtete, danach Betrachter anderer Ahnungsloser. Auch manche der abgebildeten Figuren in den Bildern Ursula Hübners scheinen zwischen diesen beiden Funktionen zu changieren. Einerseits wirken sie oft wie Erscheinungen, gespensterhaft, wie etwas, das sich zeigt, obwohl es hätte verborgen bleiben sollen - was einer der klassischen Definitionen des Unheimlichen entspricht. Andererseits aber haben sie nicht selten auch etwas Hilfloses: ahnungslos über ihr Betrachtetwerden, wirken sie schwach, klein und deplaziert in den riesigen Räumen, die nicht die ihren sind. Was die Betrachter erst erschreckt haben mag, wirkt nun fast liebenswert und der Sympathie bedürftig. Ein gewisser Charme und etwas Komisches, das diese Darstellungen auch an sich haben, könnte genau daher rühren: aus der Erleichterung über den Umstand, daß die Erscheinungen gar nicht bedrohlich, sondern möglicherweise eher Opfer als Täter sind.

Zugleich kann das die Betrachter zu einem erneuten Erschrecken veranlassen: die Entdeckung, etwas gefürchtet zu haben, das sich dann als Opfer erwies, macht die Betrachter selbst zu Tätern. Wären sie erst über die Erscheinungen erschrocken, so erschräken sie nun über sich selbst. In Lars von Triers als Fernsehserie gedrehtem Film "Die Geister" ("The Kingdom") entsteht manches von dem vielen Unheimlichen aus einer solchen Umkehrung: eine beunruhigende Stimme zum Beispiel, von der niemand weiß, woher sie kommt, erweist sich bei genauem Hinhören als die eines kleinen Mädchens, das den Satz sagt: "Warum muß ich sterben?"


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Angst entsteht nicht allein durch die Erwartung einer gefährlichen Situation oder eines monströsen Gegenübers, sondern vor allem auch durch die Ungewissheit über die eigene Rolle in bezug auf dieses Gegenüber. Jacques Lacan hat das in einer kleinen Lehrfabel gezeigt: Angenommen, es gelänge mir in die Haut des Männchens einer Gottesanbeterin zu schlüpfen - d. h. jenes Tiers, das sein Männchen tötet und frißt. Wenn ich nun ein Weibchen dieser Spezies auf mich zukommen sehe, so mag mir dies Angst einjagen. Aber weit größer, so Lacan, würde meine Angst noch sein, wenn ich nicht wüßte, ob die Haut, in der ich stecke, die eines Männchens oder eines Weibchens ist. Noch unheimlicher als die Aussicht, gefressen zu werden, ist die Ungewißheit über den eigenen Status innerhalb dieses Speiseplans.


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Unheimlich ist es andererseits auch, bemerken zu müssen, daß das, was man eben noch für die Schritte eigenen Entdeckens hielt, sich in Wahrheit in schon vorgezeichneten Fußstapfen abgespielt hat - und seien es auch die eigenen: "Als ich einst an einem heißen Sommernachmittag die mir unbekannten, menschenleeren Straßen einer italienischen Kleinstadt durchstreifte," schreibt Sigmund Freud, "geriet ich in eine Gegend, über deren Charakter ich nicht lange in Zweifel bleiben konnte. Es waren nur geschminkte Frauen an den Fenstern der kleinen Häuser zu sehen, und ich beeilte mich, die enge Straße durch die nächste Einbiegung zu verlassen. Aber nachdem ich eine Weile führerlos herumgewandert war, fand ich mich plötzlich in derselben Straße wieder, in der ich nun Aufsehen zu erregen begann, und meine eilige Entfernung hatte nur die Folge, daß ich auf einem neuen Umwege zum drittenmal dahingeriet. Dann aber erfaßte mich ein Gefühl, das ich nur als unheimlich bezeichnen kann, und ich war froh, als ich unter Verzicht auf weitere Entdeckungsreisen auf die kürzlich von mir verlassene Piazza zurückfand." Die unbeabsichtigte Wiederholung, etwa wenn man beim Herumirren im Wald immer an dieselbe Stelle zurückkommt; oder der plötzliche Eindruck, daß man, anstatt sich aus eigenen Antrieben irgendwo hin zu begeben, schicksalhaft, gleichsam ferngesteuert durch fremde Kräfte, dorthin bewegt wurde; daß man an einem Ort angelangt ist, an dem man bereits erwartet wurde: diese Erfahrung kann zum Beispiel auch dann auftreten, wenn man bemerken muß, daß man das Aussehen oder bestimmte Charakterzüge mit den Vorfahren teilt, daß gewisse Verhaltensmuster ("as you") schon früher regelmäßig in der Familie vorkamen etc. Ähnlich unheimlich wirkt auch das zufällige, aber gehäufte Auftreten bestimmter Zahlen oder Wortlaute - etwa wenn man kurz nacheinander zum Beispiel auf einem Handtuch im Hotel und auf einer Geburtstagstorte die Worte lesen müßte: "As You".


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Dasselbe gilt klarerweise auch für die Begegnung mit Doubles. Sich selbst unerwartet zum Beispiel in einem Bild einer Ausstellung erblicken zu müssen, kann den Effekt des Unheimlichen ebenso auslösen, wie es die Wiederholung von Begebenheiten vermag. Andererseits aber sind genau die unheimlichen Dinge oft die komischen: "Zwei ähnliche Gesichter, von denen keines für sich allein lächerlich wirkt", schreibt der Philosoph Blaise Pascal, "reizen gemeinsam durch ihre Ähnlichkeit zum Lachen."

Diese unerwartete Gemeinsamkeit zwischen dem Unheimlichen und dem Komischen gründet sich übrigens alleim Anschein nach darauf, daß in beiden Fällen - wie Freud es für das Unheimliche vermerkt - eine Illusion überwunden werden mußte: Einen Scherz zum Beispiel können nur diejenigen genießen, die wissen, daß es ein Scherz ist. Und so richtig erschrecken kann man nur Leute, die nicht an Gespenster glauben.



Literatur:


Freud, Sigmund

[1919h] Das Unheimliche, in: ders., Studienausg. Bd. IV, Frankfurt/M.: Fischer, 1989, S. 241-274


Kemp, Wolfgang (Hg.)

Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin; Hamburg: Reimer, 1992

Lacan, Jacques

[1962/63] Seminar X: Die Angst (unpubliziert)


Pascal, Blaise

Gedanken über die Religion und einige andere Themen, Stuttgart: Reclam, 1997

vgl. dazu Kemp (Hg.) 1992.

s. Freud 1919h: 264

s. dazu Lacan [1962/63], Sitzung vom 14. 11. 1962

s. dazu Freud 1919h: 260

s. Freud ebd.

Pascal 1997: § 13