Dieter Bandhauer

 

Bühne und Bilder von Ursula Hübner



Die Berufsbezeichnung “Bühnenbildnerin”/“Bühnenbildner” gibt noch relativ korrekt wieder, was diese Berufsgruppe tut: sie bildet, baut Räume auf Bühnen. Diese Räume sind dann alles andere als Bühnenbilder, als die sie sprach­konventionell aber gerne bezeichnet werden. Etwas bilden, meint also eher “bauen” und eher nicht “malen”. Deswegen heißen Bühnen­bildner auch so und nicht Bühnenmaler. Als solche, könnte man sagen, bemalen sie Kulissen. Aber auch diese werden dann in den Raum gestellt. Die Kulisse ist also dreidimensionaler als etwa das Tafelbild, das, an die Wand gehängt, sich niemanden in den Weg stellt, keine Räume teilt oder abgrenzt. Zugegeben, der Steigerungsform von “dreidimensional” haftet etwas durchaus Problematisches an, aber dieses “Problematische” haftet wiederum dem Theater generell an; am schönsten hat dieses generell Problematische Roland Barthes – nicht beschreibend, vielmehr schlussfolgernd – formuliert: “Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin.”


Ich gehe davon aus, dass die Malerin und Bühnenbildnerin Ursula Hübner das Theater liebt. Wobei die meisten von uns, die wir das Theater lieben, wohl unweigerlich den Weg, den Barthes beschrieben hat und selbst gegangen ist, ebenfalls beschritten haben, also zu guter Letzt fast nie mehr hingehen. (Dies ist bezüglich Ursula Hübner aber nur eine Vermutung.) Jedenfalls machte sie diese Liebe zum guten Geist des Sparverein Die Unzertrennlichen, dessen Aufführungen mittlerweile bereits als legendär bezeichnet werden können. Denn ansonsten wurde im Sparverein mit Liebe dem Theater gegenüber äusserst sparsam um­gegangen. Das (un-?)ausge­sprochene Motto an alle Beteiligten war: “Mach kein Theater!”


“Theatralisch” wird von “Theater” abgeleitet – und trotzdem stehen die beiden Begriffe in einer eigenartigen Opposition zueinander. Wann immer das Attribut “theatralisch” auf eine Theaterarbeit angewendet wird, ist Gefahr in Verzug: und diese ist bei allen Beteiligten am Theater (ob in der Kantine oder auf der Bühne) ständig in Verzug – mit Ausnahme der Bühnenbildner; deren Probleme sind ja eher einfalllose Leere (seltener) oder scheußliche Sperrigkeit (häufiger). Einem Raum oder oder einem Gegenstand hingegen Theatralik zu verleihen, haftet etwas nachgerade Charmantes an. Denn wenn Gegenstände, ohne bewegt zu werden, ein Eigenleben entfalten, wenn Räume, ohne von irgendeiner Technik in Gang gesetzt zu werden, zu atmen beginnen, kurz, wenn die gegenständlichen Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden, dann erlebt das Theater seine magischen Momente.


Ein solch magischer Theater-Augenblick ist Ursula Hübner mit ihrem Bühnenbild zu Kurt Palms Inszenierung von Gustave Flauberts Das schwache Geschlecht in der Sargfabrik (199?) gelungen. Im Kopf des Besuchers bleibt von Aufführungen ja nichts mit Ausnahme von Bildern zurück, Bilder die nicht nur von der Erinnerung getrübt werden können, sondern bereits zum Zeitpunkt ihrer “Aufnahme” durch die Aktionen auf der Bühne verwischt werden. Ein eigenartiges Phänomen: das, was Theater ausmacht, ist ja gerade die (sprachliche und darstellerische) Bewegung, eine Bewegung aber, die die “bleibenden” Bilder gleichermaßen auslöst (nein, nicht auslöscht) wie verwischt. In den seltensten Fällen also behält der Besucher “reine” Bühnen-Bilder von Aufführungen zurück, sondern meist eigentümlich kombinierte Mosaik­steine aus Sprache, Aktion, Lichtern, Menschen, Gegenständen und Raum. Lediglich von den geglücktesten Bühnenkonzeptionen und unter der Voraussetzung, dass, wenn auch nur für einen Augenblick, die Bühne von Akteuren unberührt bleibt, scheint es möglich, im Kopf ein Bühnen-Bild vom Bühnenraum (also doch Bühnenbild) anzufertigen und abzulegen.


Eben ein solches Bühnen-Bild behielt ich von der Flaubert-Aufführung zurück, das déjà-vu-artig mit jener Farbfotokopie eines Fotos des Bühnenraums in der Sargfabrik zur Deckung kam, die mir Ursula Hübner vor einigen Wochen zusandte. Die farblichen Verfremdungs­effekte, die Farbfotokopien den Farbfotografien und der “Wirklichkeit” noch zusätzlich hinzufügen, brauchen nicht abgezogen werden, da die Verfremdungseffekte der Erinnerung ebenfalls genau diese eigentümlich fehlfarbige wie leuchtende Farbigkeit ergaben.


Macht also diese spezifische Farbigkeit den Bildcharakter von Ursula Hübners Bühnen­raum aus, so wird in einer Gegenbewegung die Räumlichkeit des Bühnenraums (sowohl damals in der Realität wie heute auf der Fotokopie) durch zweidimensionale Elemente, nämlich drei großformatige Fotos hervorgehoben, die an der gemauerten Rückwand der Sargfabrik in drei Nischen aufgebracht waren – eigentlich “blinde” Fenster, die aber in der Illusion der Auf­führungsrealität das Gegenteil, nämlich “sehen-machende” Fenster sind. Die Abbildungen links und rechts zeigen Ausschnitte von Ansichtskartenmotiven des Eifelturms bei Tag und bei Nacht, geben den Blick “frei” auf die Stadt, in der das Stück spielt; im mittleren Fenster ist der Einblick durch einen Vor­hang “verwehrt”, am Fenstersims “stehen” drei kleine Kakteen – in der sogenannten Bühnen­wirklichkeit sind Vorhang und Kakteen aber “bloß” ein einziges Foto.


Womit wir zu den Steigerungsformen (und Abschwächungsformen) von “drei­dimensional” bzw. “flächig” zurückgekehrt sind: Sind die Eifelturm-Fenster-Fotos weniger flächig, weil sie etwas in der “Ferne” Stehendes zeigen? Oder ist das Kakteen-Vorhang-Fenster-Foto drei­dimensionaler, weil es Gegenstände (Kakteen) im Vordergrund (des Bühnenhintergrunds) zeigt? Und ganz plötzlich befinden wir uns im Zentrum der Malerei von Ursula Hübner.


In ihrem Collagenzyklus The world of interiors bringen aufgeklebte Gesichter, Hinterköpfe (Perücken?), Gliedmaßen und Kleidchen “Leben” in die Bilder – und in die Frage: Verstärkt diese flache Dreidimensionalität den räumlichen Aspekt ihrer Malerei oder macht dies Collagetechnik erst unmissverständlich klar, dass die Malerei der Zweidimensionalität nicht entkommen kann, aber auch gar nicht entkommen will? Schwach kontrastierende Farbflächen (dies gilt auch für die Ölbilder mit dem Titel Private sphere) lassen keinen Zweifel daran, dass das Thema und das Anliegen ihrer Malerei die Malerei und die Farben sind. Farb­phäno­mene, die das Bühnenbild für Das schwache Geschlecht so unvergesslich gemacht haben, kommen auch in den “real existierenden” Farben zur Anwendung: leuchtend fehlfarbig.


Doch “etwas” kommt hinzu: Gerade diese Farbflächen deuten Räume an, nein ... werden hier nicht vielmehr Räume erschlossen, die wiederum Geschichten eröffnen? Geschichten, wie sie das Leben fürs Theater und das Theater fürs Leben schreibt? Einmal am Theater (und dies gilt ganz besonders für den Zyklus Private sphere) einen Hamlet oder einen Macbeth sehen, in dem die Shakespearschen Geister und die von diesen Geistern heimge­suchten Menschen so inmitten “ihrer” Räume erscheinen, verschwinden, erscheinen ... und eins werden mit den Tiefen in der Fläche. – Aber vielleicht sind Ursula Hübners Bilder ohnehin Aufnahmen von Erinnerungen von nie auf Bühnen gespielten Tragödien, Schnappschüsse, mit ewig langer Belichtungszeit.